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Michael Obst
Oper Libretto von Hermann Schneider nach Alfred Kubin
für Solisten, Chor, Orchester und Zuspielband
Cast: 2.2(Basskl).0.2(Kfg). - 2.2.2.0. - S(2) - Str (2.2.4.4.4), Chor, Solisten: Sopran, Mezzosopran, Countertenor, 2 Tenöre, 2 Baritone, Bass, 4 Sprechrollen - Zuspielband
ISMN: M-2032-1140-2 Product No.: NM11120
pieces
Uraufführung am 25. September 2010 am Mainfranken Theater Würzburg, Großes Haus, 19:30 Uhr. Inszenierung: Stephan Suschke, Solistinnen und Solisten des Opernensembles, Chor und Ballett des Mainfranken Theater Würzburg, Philharmonisches Orchester Würzburg u.L.v. Jonathan Seers
Weitere Vorstellungen am 10., 24. und 31. Oktober, am 5. und 12. November sowie am 10. und 21. Dezember
Video (Ausschnitt) der UA am Mainfranken Theater Würzburg...
Video (Interview mit Hermann Schneider) zur Neuinszenierung am Landestheater Linz 2017...
ORF: Rezension der Neuinszenierung am Landestheater Linz 2017...
„Der Beschäftigung mit Stoffen fantastischer Prägung kommt im Werk des deutschen Komponisten Michael Obst ein zentraler Platz zu. Die weit gefasste Bandbreite reicht von der 1993 erstmals gespielten und anlässlich der Restaurierung von Fritz Langs Stummfilm „Dr. Mabuse, der Spieler“ entstandenen Begleitmusik bis zur Science-Fiction-Oper „Solaris“, einer Vertonung des gleichnamigen Romans von Stanislav Lem. Die Fähigkeit des Komponisten, anderen Werken durch Bearbeitung zusätzliche Qualität zu geben, hat natürlich die Erwartungen an seine neue Oper geschürt. Obst ist dabei seiner bevorzugten thematischen Richtung treu geblieben und hat mit Alfred Kubins Roman „Die andere Seite“ einen Klassiker der fantastischen Literatur als Vorlage gewählt. Der Erzähler und seine Frau erhalten vom reichen Schulfreund Patera die Einladung sich in Perle, der Hauptstadt des von ihm in Asien gegründeten Traumreiches, niederzulassen. Nach längerem Zögern unternehmen die beiden die weite Reise. Die anfängliche Begeisterung für das ganz anders ausgerichtete Leben im vollkommen abgeschotteten, alles Heutige ausklammernden Gebiet wandelt sich für das Paar bald in Qual. Nach dem Tod der Frau entwickelt sich das Dasein des Zeichners zum beständigen Albtraum, besetzt mit Halluzinationen und Weltuntergangsvisionen. Bald überschlagen sich die Ereignisse in Perle, es bricht die Außenwelt herein und besiegelt das Ende. Der Erzähler ist einer von wenigen Überlebenden. Die Oper entstand als Auftragswerk des Mainfranken-Theaters Würzburg, dessen Intendant Hermann Schneider als Librettist in tragender künstlerischer Funktion involviert ist. Das 1909 erschienene Buch des Autors und Zeichners Kubin musste für die 100 Minuten dauernde Oper in eine gekürzte Form gebracht werden, was ohne Substanzbeeinträchtigung gelungen ist. Dass dabei kein gehetzter Eindruck entsteht, spricht für Schneiders aussagekräftigen Text und die überzeugende Komposition. Den musikalischen Ausgangspunkt und roten Faden bildet ein Lamento armenischen Ursprungs, dessen wehmütige Stimmung die vertraute Basis schafft, um den Hörer mitzunehmen. Zudem überzeugt die Oper durch geschickte Vermischung von Orchestermusik und elektronischen Klängen, wobei letztere mit fortschreitender Auflösung des Traumreiches an Gewicht gewinnen; hinzu kommen, zur Betonung des Kubin-Textes, aus dem Off eingebrachte, gesprochene Passagen. Beeindruckend ist, wie Obst mit musikalischen Verschiebungen und Verfremdungen arbeitet, um die beständig zwischen Realität und Traum fließende Handlung wiederzugeben. Ein prägnanter Einstieg gelingt der Inszenierung, indem sie während des Vorspiels die Reise des Paares nach Perle als Video zeigt. Der Schauplatz in der Stadt selbst ist eine Hotelhalle mit Rezeption, Bar, Aufenthaltsbereich, Aufzug und Treppenhaus, ergänzt vom riesigen runden Hintergrundausschnitt, den Patera zur Beobachtung und als Repräsentationsfläche nutzt. Durch den großzügig angelegten Raum ermöglicht Bühnenbildner Momme Röhrbein den reibungslosen Ablauf der ereignisreichen Handlung. In Hella Büntes Kostümen wird der bestimmenden Sehnsucht nach dem Vergangenen entsprochen. Ausgezeichnet versteht es Regisseur Stephan Suschke, die verschiedenen Bereiche des Saales zu bespielen und sowohl für den anfangs gleichförmigen Alltag und die spätere Auflösung des Traumreiches Bilder zu finden, die haften bleiben. Dietrich Volle verband als Zeichner, der nach und nach alles verliert, bis er sich, aufgesogen von der fremden Welt, nur noch treiben lässt, eindringliche Bühnenpräsenz und markant ausdrucksstarken Gesang. Als seine Frau gefiel Silke Evers durch sichere Bewältigung der heiklen Spitzentöne. Obwohl argwöhnisch über allem wachend, gelingt es Patera nicht, den rasanten Zusammenbruch seines Reiches aufzuhalten; vom Countertenor Denis Lakey wurde er mit düsterer Erscheinung und fesselnder Stimme ins rechte Licht gerückt. Auch die anderen, teilweise in zwei Partien eingesetzten Mitwirkenden leisteten Hervorragendes: Nicholas Shannon war die gestandene Amtsperson und der umtriebige kleine Herr, Sonja Kuppelhuber brachte als Melitta die Verführung des Zeichners tatkräftig voran, Joachim Goltz gab Friseur und Arzt gleichermaßen volltönend, Johan F. Kirsten versah Verkäufer und Wirt mit Nachdruck, Gast und Zoologe wurden von Martin Platz bestechend verkörpert, dem Untergangsbeschleuniger Herkules Bell verlieh Christian Taubenheim die nötige Ellbogenmentalität. Am Uraufführungsabend war Würzburgs GMD Jonathan Seers der umsichtige Mittelpunkt. Seiner ruhigen Hand ist es zu danken, dass die hoch motivierten Musiker des Philharmonischen Orchesters ebenso sicher zugange waren, wie das Ensemble auf der Bühne.“
K.-F. Schulter, Das Opernglas, November 2010
„Es ist ein starkes Bild, das haften bleibt: Ein schier nicht enden wollender Menschenstrom hastet an einer Uhr vorbei, deren Zeiger sich viel zu schnell und rückwärts drehen. Wo sind wir? Was bedeutet das? Die Szene steht beispielhaft für das, was sich in den 18 Szenen mit Prolog und Epilog von Michael Obsts Stück „Die andere Seite“ abspielt. Rund 100 Minuten dauert die anspruchsvolle und spannende Literaturoper, die das Mainfrankentheater zum Saisonstart uraufgeführt hat. Der gleichnamige Roman des Zeichners und Illustrators Alfred Kubin von 1909 gilt als Klassiker der fantastischen Literatur. Was Komponist Michael Obst, sein Librettist, der Würzburger Intendant Hermann Schneider, und Regisseur Stephan Suschke aus der Vorlage destilliert haben, kann sich hören und sehen lassen, selbst wenn man auf Anhieb beileibe nicht alles versteht. Letzteres ist der psychologisch aufgeladenen, auf mehreren Ebenen lesbaren Handlung geschuldet – und der leider fehlenden Übertitelung. Im Zentrum steht ein Zeichner, der auf Einladung eines Schulfreundes in dessen Traumreich am anderen Ende der Welt reist. Dort muss er erleben, wie seine zunehmend verstörte Frau stirbt, während die Gesellschaft dieses fortschrittsfeindlichen, kapitalistischen und totalitären Überwachungsstaats Halluzinationen und Weltuntergangsvisionen verfällt und zu Grunde geht. Der Regisseur, ein langjähriger Mitarbeiter Heiner Müllers, der u.a. dessen Bayreuther „Tristan“ betreute, hat auch seine dritte Opernarbeit in Würzburg handwerklich, inhaltlich und ästhetisch überzeugend umgesetzt. Die Handlung ist in ein Hotel verlegt, wo Realität und Surreales ineinanderfließen. Die wirkungsvolle Ausstattung (Bühne: Momme Röhrbein, Kostüme und Tiermasken: Hella Bünte) und gezielte Projektionen lösen eine Fülle von Assoziationen aus – von Hieronymus Boschs Höllenszenarien über Thomas Manns „Tod in Venedig“ und Fritz Langs „Metropolis“ bis hin zu Alfred Hitchcocks „Psycho“. Die Inszenierung bringt die überwiegend atonale, aber filmisch illustrative, ebenfalls anspielungsreiche und spannungsgeladene, zunehmend von elektronischen Klängen geprägte Komposition großartig zur Wirkung. Dass die Stimmen der Solisten mit Mikroports verstärkt werden, ist schade. Feinere vokale Differenzierungen, die das Ensemble sowie die Gastsolisten Dietrich Volle, Denis Lakey und Martin Platz gewiss beherrschen, wirkten so nivelliert. Die von Jonathan Seers präzise vorbereiteten Orchestermusiker, die das Feld mehr und mehr elektronischen Klängen überlassen, die der Komponist selbst eingespielt hat, realisieren mit den Choristen und Solisten eine Musik, die so suggestiv wirkt, dass mancher Besucher der Premiere „Die andere Seite“ gern ein zweites Mal „aufschlagen“ würde. Lässt sich über eine neue Oper etwas Schöneres sagen?
Monika Beer, Opernwelt, November 2010
"Totentanz im Alptraumreich Eine Uraufführung zum Auftakt, eine Adaption des Romans "Die andere Seite" von Alfred Kubin für das Musiktheater, Auftragswerk für einen namhaften Vertreter der zeitgenössischen elektronischen Musik: Das Mainfranken Theater Würzburg wählte mit der ersten Opernproduktion nicht gerade den leichten Weg in die Spielzeit 2010/2011. 18 Szenen, einen Prolog und einen Epilog hat der Librettist (und MFT-Intendant) Hermann Schneider aus Kubins Roman destilliert. Michael Obst komponierte dazu eine suggestive Musik, die die "Dekonstruktion der Realität" im Roman spiegelt und das traditionelle - in diesem Fall weitgehend atonale - Klangmaterial des Sinfonieorchesters allmählich verlässt und in eine elektronisch erzeugte Klangwelt hinüberführt. Am Samstag hatte "Die andere Seite" von Michael Obst und Hermann Schneider in der Regie von Stephan Suschke Premiere. Kubins Roman ist ein literarischer Proteus: Immer wieder wechselt er seine Realitätsebenen, lässt sich nie auf eine Sichtweise festlegen. Er springt übergangslos vom psychoanalytischen Lehrstück zum Schauerroman, zur Groteske, zur gesellschaftskritischen Schrift und zur Traumerzählung. An vielen Stellen könnte man den Roman geradezu als kafkaesk bezeichnen - wäre er nicht vor Kafkas Prosa entstanden. In "Die andere Seite" folgt der Erzähler, ein Zeichner, mit seiner Frau der Einladung seines Schulfreundes Patera in ein in Asien gelegenes Traumreich, das sich als Überwachungsstaat mit grotesken und erschreckenden Zügen herausstellt. In der von Angst und Unsicherheit geprägten Atmosphäre stirbt die Frau. Der Erzähler wird Zeuge, wie die Ordnung zerfällt, wie das Reich im apokalyptischen Kampf von Patera und dem Amerikaner Hercules Bell zerstört wird. Die Bilderfülle des Romans muss auf der Theaterbühne notwendig auf das Darstellbare reduziert werden. Regisseur Stephan Suschke, Momme Röhrbein (Bühne) und Hella Bünte (Kostüme) verlegten die Handlung in eine Hotel-Lobby, die im Hintergrund von einem riesigen Rund beherrscht wird, das Überwachungsauge, Thron von Patera, Gewitterhimmel oder idyllisches Landschaftsbild sein kann. Sonderbare Gestalten bevölkern die Szene: zwei Schachspieler, die über die Anfangszüge der sizilianischen Eröffnung nicht hinauskommen; ein Wirt, der den Wert der Währung nach Belieben verändert; eine groteske Amtsperson; ein Zoologe auf der Suche nach einer neuen Varietät der Staublaus; zwei laszive Zimmermädchen; die von der Hausfrau zur Hure mutierende Melitta. Die Inszenierung ist durchzogen von Assoziationen, von Verweisen auf Filme und Bilder: "Metropolis" meint man zu erkennen, einen mittelalterlichen Totentanz, schließlich geht Pateras Welt in einer Höllenszene wie bei Hieronymus Bosch unter. Es gibt pausenlos Bilder zu entdecken in der Inszenierung und es gibt ausnahmslos wunderbare Stimmen zu hören (alle Solisten singen über Mikroport), allen voran Dietrich Volle als Zeichner und Silke Evers als seine Frau. Jonathan Seers hatte die musikalische Leitung. Michael Obst hat seiner Komposition, die in Würzburg ohne Pause in knapp zwei Stunden gespielt wurde, das Konzept einer Leitmelodie, einer armenischen Weise, unterlegt und Zitate aus Kubins Roman als strukturelle Muster für den Orchesterklang zugrunde gelegt. Er geht dabei häufig von Orgelpunkten aus, die von expressiven Einwürfen der Bläser umspielt werden. Wenn die Wahl einer zeitgenössischen Oper ein Wagnis für das Würzburger Theater war, dann eines, das aufgegangen ist: "Die andere Seite" ist, von der Komposition, der Inszenierung, der musikalischen Realisierung her, ein "Muss" für alle, die den Gang in ein Opernhaus nicht als Museumsbesuch, sondern als Beitrag zur aktuellen Kunst verstehen. Beim Premierenabend gab es viel Beifall und einige wenige Buhs."
Jürgen Strein, Fränkische Nachrichten, 27. September 2010
„Mit offenen Augen ins Alptraumland Oper: Gelungener Start in die neue Spielzeit am Würzburger Mainfranken Theater mit der Uraufführung von Michael Obsts „Die andere Seite“
Das „Traumland“ befindet sich dort, wo die Grenzen verwischt sind. Man kann es mit der Bahn erreichen, aber nicht so einfach verlassen. Alles was man dort sieht, kennt man von irgendwoher, doch das Vertraute befremdet und erschreckt. Auf eine Reise in dieses Land, in dem Sein und Schein, Traum und Wirklichkeit nicht klar zu unterscheiden sind, lädt die Oper „Die andere Seite“ von Michael Obst im Mainfranken Theater Würzburg ein. Der Intendant, Hermann Schneider, und sein Ensemble starten mit diesem Stück, das frei nach dem gleichnamigen Roman von Alfred Kubin verfasst wurde, mit einer Uraufführung in die neue Spielzeit, die dem Zuschauer vor allem eines abverlangt: Die Bereitschaft, mit offenen Augen zu träumen. Das wichtigste Gestaltungsprinzip der Oper orientiert sich an einem Merkmal des fantastischen Romans, des Genres, in das sich auch Kubins Vorlage einreihen lässt: Die Realität ist sozusagen das „Trampolin für das Surreale“, wie Regisseur Stephan Suschke es nennt. Bühnenbildner Momme Röhrbein hat zu diesem Zweck den Bühnenraum zu einem Hotel umgestaltet, also zu einem zunächst ganz realen, urbanen Ort. In diesen schleichen sich zunehmend surreale Elemente ein: ein singender Affe, eine überdimensional große Uhr, die rückwärts geht und alle Menschen in ihren Bann zieht und immer wieder schräge Typen, die sich merkwürdig verhalten. All das erscheint mit einer Selbstverständlichkeit auf der Bühne, dass man bald aufgibt, sich zu wundern – wie im Traum eben auch. Man gewöhnt sich an die zwei Dienstmädchen mit den unnatürlich zackigen Bewegungen und dem starren Blick (Zoya Ionkina, Caroline Matthiesen), die Schachspieler, die, Tag für Tag, egal was um sie herum passiert, wie unter Zwang, nichts anderes tun, als immer nur einen Zug nach dem nächsten auf ihrem Schachbrett vorzunehmen (Paul Henrik Schulte, David Hieronimi) und auch an den Zoologen, der seltene Läuse sammelt (Martin Platz). Eine Schlüsselrolle in diesem Szenario spielt eine Figur namens „Patera“. Er ist der Schöpfer und Meister des Traumlandes. Verkörpert wird Patera in Obsts Oper sehr eindrucksvoll durch den Counter-Tenor Denis Lakey, in einer Gastrolle beim Würzburger Ensemble. Seine Erscheinung wirkt höchst fragil und ist zugleich von einer Intensität, die ans Hypnotische grenzt. Dies wird vor allem durch die Stimmlage bewirkt, die alle anderen Klänge durchdringt und dominiert. Lakey alias Patera bannt mit seiner Stimme wie ein Magier. Mit seiner silbernen Pop-Ikonen-Hose, seinem weißgeschminkten Gesicht und seiner langen Barockperücke, ausgewählt von Kostümbildnerin Hella Bünte, scheint er optisch einer Reihe gleichwegs genialer als auch tragischer Künstlerfiguren zu entspringen. Wie etwa der Märchenkönig Ludwig II. von Bayern oder aber auch Michael Jackson muss er mit ansehen, wie sein künstliches Reich zerfällt. Das „Traumland“ verwandelt sich im Laufe der Handlung immer mehr in ein Alptraumland. Als der Amerikaner Herkules Bell auftaucht – gespielt von Christian Taubenheim in einer Debüt-Rolle am Mainfranken Theater – wendet sich das Traumvolk gegen seinen Schöpfer und leitet auch seinen eigenen Untergang ein. Mit dem zunehmenden Zerfall des Traumlandes wird auch die Realität immer mehr dekonstruiert. Die Figuren verhalten sich immer merkwürdiger und unmenschlicher. Dies kann man auch musikalisch verfolgen. Immer mehr dominieren elektronische Elemente in Michael Obsts Komposition. Als das Traumreich untergeht, scheint ein undefinierbares Rauschen, ein elementarer Rhythmus aus Klängen, die einmal an Naturgeräusche wie Wind, Donner und Wasser, dann wieder an das Surren technischer Geräte erinnern, den traditionellen menschlichen Gesang fast gänzlich zu verdrängen. Doch am Ende taucht die Leitmelodie, aus der alle Gesangspartien, bis auf die Pateras entwickelt wurden, wieder auf. Der Opernchor des Mainfranken Theaters singt eine tieftraurige Weise, die Michael Obst aus Armenien mitgebracht hat. Es gibt ein Überleben jenseits des Traumlandes, gerade auch für den namenlosen Zeichner, den Icherzähler im Roman Kubins, im Stück verkörpert von Bariton Dietrich Volle als Gast im Mainfranken Theater. Wie im wirklichen Traum geschieht vieles in Michael Obsts Oper auffällig synchron. Das gleichzeitige Zusammenspiel von Handlungssträngen, Melodien, elektronischen Klängen, Textstücken, Lichtspielen und kinoähnlichen Projektionen, die gleichermaßen intensiv angewendet werden, verwirrt die Sinne und lenkt von einer stringenten Verfolgung der Handlung ab. Doch gerade dieser Effekt bewirkt ein ganz besonderes Wahrnehmungsereignis: Wenn nach knapp zwei Stunden der Vorhang fällt, hat man das Gefühl, gerade aus einem besonders intensiven, schrecklichen aber auch faszinierenden Alptraum zu erwachen.“
Katharina Manzke, Main Echo, 30. September 2010
"Auf dem Weg in den Abgrund Alfred Kubins Roman "Die andere Seite" wird am Mainfrankentheater Würzburg als Oper gezeigt. Komponist Michael Obst und Regisseur Stephan Suschke ist eine spannende Umsetzung gelungen. Es ist ein starkes Bild, das haften bleibt: Ein schier nicht enden wollender Strom an Menschen hastet an einer riesigen Uhr vorbei, deren Zeiger sich zwar viel zu schnell, aber rückwärts drehen. Wo sind wir hier? Was hat das zu bedeuten? Die alp-traumhafte, surrealistische Szene ist beispielhaft für das, was sich in der Oper "Die andere Seite" abspielt, die am Samstag in Würzburg uraufgeführt wurde. Rund 100 Minuten dauert dieses aufwändig und anspruchsvoll realisierte Musiktheater - und es ist spannend von Anfang bis Ende. Alfred Kubin (1877-1959) ist als Zeichner und Illustrator vielen Kunstfreunden ein Begriff. Dass er auch einen bedeutenden Roman geschrieben hat, ist weniger bekannt. Dabei gilt "Die andere Seite" von 1909 als ein Klassiker der phantastischen Literatur und soll keinen Geringeren als Franz Kafka nachhaltig beeinflusst haben. Sowohl der Komponist Michael Obst als auch sein Textautor Hermann Schneider waren schon seit ihrer Studienzeit fasziniert von diesem Roman; Letzterer initiierte als Intendant schließlich die Veroperung und schuf das Libretto für das Auftragswerk des Mainfrankentheaters. Was dabei herausgekommen ist, kann sich in jeder Hinsicht hören und sehen lassen - selbst wenn man auf Anhieb beileibe nicht alles versteht. Das hat zum einen mit der tiefenpsychologisch aufgeladenen Handlung zu tun, die sich auf mehreren Ebenen spiegelt. Zum anderen fehlen leider die Übertitel, die gerade bei einem nagelneuen Werk eigentlich unverzichtbar sind. Und noch ein Manko hat die Produktion: Nicht immer will einem an diesem Abend einleuchten, warum die Stimmen der Gesangssolisten grundsätzlich mit Mikroports verstärkt werden. Zwar ist die Komposition zunehmend von elektronischen Klängen geprägt, die für eine natürliche Gesangsstimme teilweise zu gewaltig sind. Aber es gibt viele Passagen, in denen die Verstärkungs- und Übertragungstechnik einer möglichen stimmlichen Differenzierung eher im Weg steht. Das ist schon deshalb schade, weil das Mainfrankentheater für diese Produktion eine großartige, mit probaten Gastsängern bereicherte Solistenriege aufbietet. Der Bariton Dietrich Volle, Ensemblemitglied der Oper Frankfurt, ist als der Zeichner zu erleben, der auf Einladung seines Schulfreunds Patera (ein bannender Countertenor: Denis Lakey) in dessen Traumreich am anderen Ende der Welt reist. Dort muss er erleben, wie seine Frau (sängerdarstellerisch wie immer erstklassig: die Sopranistin Silke Evers) von den aberwitzigen und seltsamen Vorgängen zunehmend verstört wird und stirbt, während die Gesellschaft dieses kapitalistischen, totalitären, rückwärtsgewandten und fortschrittsfeindlichen Überwachungsstaats immer mehr überdreht. Halluzinationen und Weltuntergangsvisionen sind an der Tagesordnung, bis das merkwürdige Traumreich schließlich an sich selbst zu Grunde geht. Der Regisseur Stephan Suschke, ein langjähriger Mitarbeiter von Heiner Müller, der nach dessen Tod auch die Bayreuther "Tristan"-Inszenierung betreute, ist in Würzburg schon mehrfach mit außergewöhnlichen Inszenierungen positiv aufgefallen. Nach Heinrich Marschners "Der Vampyr" und Hans Pfitzners "Das Herz" ist "Die andere Seite" von Michael Obst schon die dritte Oper, für die er mit seinem Team eine handwerklich, inhaltlich und ästhetisch überzeugende Umsetzung erarbeitet hat. Bühnenbildner Momme Röhrbein verlegt die Handlung sinnfällig in ein Hotel. Hier treffen nicht nur unterschiedlichste Menschen wie selbstverständlich aufeinander, hier vermischen sich auch Realität und Surreales ganz fließend und spektakulär. Die wirkungsmächtigen Kostüme und Tiermasken von Hella Bünte und die präzise eingesetzten Projektionen von Christian Bonawitz lösen eine Fülle von Assoziationen aus - in der Bandbreite von Hieronymus Boschs Höllenszenarien über Thomas Manns "Tod in Venedig" bis hin zu Alfred Hitchcocks "Psycho". Die von Generalmusikdirektor Jonathan Seers präzise einstudierten Instrumentalisten, Choristen und Solisten realisieren eine Musik, die ebenfalls anspielungsreich, eingängig, illustrativ und so spannungsgeladen komponiert ist, dass so mancher begeisterter Premierenbesucher sich "Die andere Seite" gerne ein zweites Mal vornimmt. Lässt sich über eine neue Oper etwas Schöneres sagen?"
Monika Beer, inFranken.de, 28. September 2010
"Schon vor der Opern-Premiere mit einer seit Jahrzehnten in Würzburg nicht mehr erlebten Uraufführung ereignete sich reichlich Seltsames in und neben dem Mainfranken Theater Würzburg. Mitten in der Einführung von Dramaturg Christoph Blitt in dieser im Grenzbereich zwischen Traum und Realität, zwischen Fiktion und Wirklichkeit angesiedelten zeitgenössischen Oper "Die andere Seite" von Michael Obst überlagerten sich anscheinend Funkfrequenzen. Aus dem Lautsprecher im oberen Foyer platzten letzte Regieanweisungen aus dem noch nicht geöffneten Großen Saal in Blitts Ausführungen. Deutlich war "Darf ich den Zug noch einmal sehen? Eine Sizilianische Eröffnung" zu verstehen. Später brachten sich die Feuerwehr und ein Großaufgebot an Krankenwagen mit Blaulichtgewitter am Faulhaber-Platz in Stellung, um nach der Räumung eines großen Hauses einer übelriechenden Substanz nachzuspüren, die Atemwegsbeschwerden verursachte. Den Atem beklemmend ging es dann auch in dem von Stephan Suschke inszenierten Auftragswerk des Mainfranken Theaters zu, für das der Würzburger Intendant Hermann Schneider nach dem gleichnamigen fantastischen, 1909 veröffentlichten Roman von Alfred Kubin das Libretto schrieb. Der Zeichner (Dietrich Volle), der mit seiner Frau (Silke Evers) einer Einladung des mit dem Zug in das "Perle" genannte Traumreich des unermesslich reichen Patera (Countertenor Denis Lakey) fährt, das irgendwo in Asien gelegen auf keiner Karte zu finden ist. Während sich das Paar noch in Sicherheit wähnt, erzählt die Musik schon von drohender Gefahr. Mit einer "Sizilianische Eröffnung" beschäftigen sich in dem Hotel, in dem der Zeichner mit seiner Frau ein Zimmer bezieht, zwei Schachspieler (Paul Henrik Schulte und David Hieronimi), von denen einer immer wieder einen Zug dieser "Sizilianische Eröffnung" sehen will. Diese Taktik ist für den oft folgenden scharfen Kampf berühmt, der bei den zeitlupenartig gedehnten Schachzügen gar in die Gänge kommen wollte. Kein Zufall, denn wie im Roman zerfasert die anfänglich scheinbar deutlich wahrgenommene Realität immer mehr und gleitet fast unmerklich in eine "Traumwelt" hinüber. Immer surrealer werden die Geschehnisse in dem fantastischen Überwachungsstaat, symbolisiert durch den urbanen Mikrokosmos eines Hotels, dessen Bewohner der reiche Amerikaner Herkules Bell (Christian Taubenheim) vom Diktator zu befreien sucht, symbolisiert durch ein gigantisches, nie geschlossenes Auge im Foyer. Faszinierend der Beginn des Stückes, als Videosequenzen (Christian Bonawitz und Momme Röhrbein) in Naheinstellungen das Ehepaar während der Zugfahrt ins "Traumreich" zeigen. Gleichzeitig zeichnet eine expressive Musiksprache mit vertrackten Tempo- und. Rhythmuswechseln die Impressionen der langen Zugfahrt nach. Der in Neuer Musik äußerst erfahrene Generalmusikdirektor Jonathan Seers meistert mit seinem Ensemble so manche Klippen der Komposition von Michael Obst, einem Schüler von Kontarsky und Stockhausen, mit viel Bravour. Denn die vertrauten Klänge der klassischen Instrumente weichen Schlagzeug und elektronischer Musik, die den eingangs vom Opernchor vorgetragenen eigentümlich berührenden armenischen Trauergesang in den folgenden Traumsequenzen bis zur Unkenntlichkeit sezieren. Eine kafkaeske Behördenbürokratie verkörpert durch eine Amtsperson (Nicholas Shannon), vermittelt dem Ehepaar das Gefühl, unsichtbaren Mächten ausgeliefert zu sein. Etwas Halt geben dem Zeichner in dem beginnenden Alptraum anfangs noch der Verkäufer und Wirt (Johan F. Kirsten) und der Friseur und Arzt (Joachim Goltz), während sein Frau erkrankt und bald stirbt. Im "Traumreich" mit apokalyptischen Eindrücken im Stil eines Hieronymus Bosch oder von "Nosferatu"-Filmsequenzen gehen die Uhren plötzlich rückwärts, aus adretten Zimmermädchen werden plötzlich lüsterne siamesische Zwillinge, Tiere übernehmen die Macht, Melitta (Sonja Koppelhuber) wird zum Vamp und verführt den Zeichner und das Traumreich zerfällt mehr und mehr. Da blubbern Geräusche wie zerhackte Sätze durch die vom Wald überwucherte Hotelhalle, in die eisig-grelles Licht erbarmungslose Endzeitstimmung vermittelt. Von vorneherein als ein Stück für das gesamte Ensemble angelegt, bringen sich die Chormitglieder gleichermaßen sängerisch und schauspielerisch überzeugend in zahlreichen Bildern ein. Dem Stück etwas von seiner Destruktivität. nehmen Caroline Matthiessen, Zoya Ionkina und Manuel Wahlen von Anna Vitas Würzburger Ballettcompagnie als reizende Dienstmädchen und agiler Page. Das Publikum zeigte sich sehr angetan von diesem zeitgenössischen Werk."
Felix Röttger, Südwest Presse, 28. September 2010
"Würzburger Mainfranken Theater: Opern-Uraufführung "Die andere Seite" fesselt mit starken Bildern
"Grübeln Sie nicht unnötig!“, rät man dem Neuankömmling, der sich verunsichert umsieht in diesem seltsamen Staat, in dem die Welt zwar irgendwie aussieht wie gewohnt, aber sich doch nicht in die beruhigende Alltagslogik fügen will. "Grübeln Sie nicht unnötig" ist auch der passende Rat für die Besucher der Oper "Die andere Seite" am Würzburger Mainfranken Theater. Grübeln ist zudem gar nicht nötig. Die Bilder, die Regisseur Stephan Suschke, Momme Röhrbein (Bühne) und Hella Bünte (Kostüme) zeigen, wirken quasi unter Umgehung des Intellekts, als träfen sie direkt ins Unbewusste. Das, was dem Zeichner und seiner Frau (Dietrich Volle und Silke Evers) in Perle, der Hauptstadt eines "Traumreich" genannten Landes, widerfährt, lässt sich ebenso wenig erklären wie etwa die weichen Uhren auf dem berühmten Bild von Dalí. Alfred Kubin, dessen Roman dem Libretto des Würzburger Intendanten Hermann Schneider zu Grunde liegt, scheint seine Bilder aus surrealen Träumen zu schöpfen. Über weite Strecken hinweg fühlt sich das Publikum im Theater, als säße es im Kino: Die Videotechnik ist kräftig im Einsatz. Das ist die passende Optik, um einen Fantasy-Stoff – nichts anderes ist die Oper – für heutige Sehgewohnheiten umzusetzen. So wird der Zuschauer 100 Minuten lang in einen Strudel von Ereignissen gerissen, der immer schneller wirbelt. Immer unwahrscheinlicher wird die Welt. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Die Turmuhr läuft rückwärts. Ein Affe betätigt sich als Barbier. Menschen beginnen zu verwesen, obwohl augenscheinlich noch am Leben. Traumreich zerbröckelt. Und mit ihm verfällt Patera, der mit seinem märchenhaften Reichtum das Land aufgebaut und nahezu telepathisch beherrscht hat. Die Regie zeigt ihn zunächst wie den lebenden Bestandteil einer barocken Tapisserie hoch über der Bühne. Am Ende ist er eine bedauernswerte Figur, der den Untergang nicht aufhalten kann. Komponist Michael Obst lässt Patera von einem Countertenor singen (Denis Lakey mit bewundernswerter Stimmbeherrschung). Dieser Kunstgriff rückt die Figur in die längst vergangene Epoche des Barock, als Männer mit Frauenstimmen in Mode waren. Zudem zitiert Patera fortwährend aus der Musikgeschichte, zwischen Gregorianik und italienischer Oper. Er ist ein – vielleicht bemitleidenswertes – Zwischenwesen. Auch der unternehmungslustige Amerikaner Herkules Bell (Christian Taubenheimer) kann den Untergang nicht verhindern. Die Bewohner von Perle versuchen nach jeder Katastrophe, den alten Trott wieder aufzunehmen. Sie wollen gar nicht befreit werden. Während Bell eine aufrüttelnde Rede hält, mutieren die Traumreich-Bürger zu Tieren. Obst malt die surrealen Szenen mit effektvoller Musik. Die wird teils vom Philharmonischen Orchester gespielt (das unter Jonathan Seers auch krude Spielweisen gut im Griff hat). Teils kommen elektronische Töne und Geräusche vom Band. Oft ist diese Musik sehr laug. Und "schön" ist sie nur selten. Aber Schönheit ist nicht das, was zeitgenössische Komponisten anstreben – und würde auch nicht zum Stoff passen. Obst nimmt ein armenisches Lamento als einen Pfeiler seiner Komposition. Doch dieses Leitmotiv ist kaum zu verfolgen. Der Zuhörer hat nichts, woran er sich festhalten kann. Verunsicherung, Beunruhigung und das Gefühl einer entgleitenden Realität machen sich breit. Das Gesangsensemble leistet ausgezeichnete Arbeit, ebenso wie der Chor (Einstudierung: Markus Popp). Die Opern-Uraufführung ist Teil der Veranstaltungsreihe "Endspiel – Würzburger Apokalypse 2010". Wie die biblische Apokalypse hält auch die Oper am Ende einen Hoffnungsschimmer bereit. Im Epilog treffen sich die Überlebenden in den Trümmern. Auch wenn der Gesang elegisch ist: Es gibt die Chance zum Neuanfang. Das Publikum im sehr gut besuchten Großen Haus spendete dem Team viel Applaus, durchsetzt mit einigen Bravos (vor allem für Denis Lakey). Ein paar Buhs gab's nur, als Komponist Obst und Librettist Schneider vor den Vorhang traten. Warum auch immer.
Mainpost, 26. September 2010
"Ein Mann – Zeichner von Beruf – wird von seinem Jugendfreund Patera eingeladen, in ein von diesem gegründetes Traumreich zu reisen. Doch als der Zeichner und seine Frau dort ankommen, müssen sie erkennen, dass ihre neue Heimat etliche skurrile bis beunruhigende Überraschungen für sie bereithält. Die Frau zerbricht schließlich an den merkwürdigen Vorgängen in dem rätselhaften Land. Ihr Mann muss erkennen, dass auch Patera, der doch in diesem Reich herrscht, nicht helfen kann oder will. Der Zeichner wird schließlich Zeuge, wie das Traumland in einem apokalyptischen Strudel aus politischen Umwälzungen, Gier, grenzenlosem Exzess und sich Bahn brechender, archaischer Naturkräfte hinabgerissen wird. "Die andere Seite" erzählt von einer Fahrt in ein merkwürdiges Reich zwischen den Realitäten. Schon bei Kubin scheint die Traumstadt ein in sich geschlossenes System zu sein, das nach ganz eigenen Regeln funktioniert. Und so greifen Regisseur Stephan Suschke und Bühnenbildner Momme Röhrbein für ihre Uraufführungsinszenierung auf die Metapher des Lebens im Hotel zurück. Man erlebt Menschen, die unterwegs sind, und nie wirklich ankommen; die sich in diesem Zwischenreich "Hotel" versuchen einzurichten, aber doch immer wieder durch die Verunsicherungen des Lebens an die Grenzen ihrer Existenz geführt werden. "Die andere Seite" gilt als ein Schlüsselwerk der fantastischen, modernen Literatur und hat mit ihren bizarren Szenarien maßgeblich auch einen Franz Kafka beeinflusst. Michael Obst ist einer der führenden Vertreter elektronischer Musik. Auch in seiner Oper "Die andere Seite", zu der Intendant Hermann Schneider das Libretto verfasste, elektronische Klänge eine große Rolle spielen." Theaterkompass.de, 18. September 2010